Countdown und Verwandlung

Erste Annäherung: Ist das jetzt schon France oder immer noch Frank? Er steht da im Probenlokal, mit kurzgeschorenem Haar, es wird langsam schütter, keine Wunder bei einem, der 1951 geboren wurde. An männlicher Schönheit nagt leichter der Zahn der Zeit als an weiblicher. Mit Brille probt der Frank, die Kontaktlinsen trägt France eben nur während der Show. Ein kleiner Ring glitzert im Ohrläppchen. Ein Hemd. Den auffallenden, nie fehlenden Silberschmuck um die Handgelenke. In den Damenstrümpfen ist ein riesiges Loch, nicht nur eine Fallmasche. Die roten Lederstiefel mit unendlich hohen Stöckelabsätzen sind schon original. Jetzt ist es noch kein Unglück, wenn Frank damit auf die Schnauze fällt, aber France darf so etwas besser nicht passieren, es wäre gar nicht damenhaft. Oben männlich, unten weiblich, in der Halbverkleidung wirkt Frank ein wenig wie ein Kentaur, das griechische Fabelwesen, das bekanntlich halb Mensch, halb Pferd ist. Frank hat ausserordentlich schöne (weibliche) Beine. Der "Blaue Engel" der Travestie.

Frank ist (wie meistens) der erste auf der Probe, nach und nach trudeln die anderen Beteiligten ein, bereiten sich vor. Ziehen halbe und halbfertige Kostüme an. Legen Requisiten bereit. Reden über dies und das. Ein paar Scherze gehören mit dazu. Micky Tanakas Mutter hat ihn bereits um 6 Uhr früh angerufen, dort, auf den Philippinen, ist es eben dann schon elf Uhr, das war sicher nicht bös gemeint. Das Plaudern und Scherzen ist das übliche Aufwärmen vor der Probe, vor der delikaten, künstlerischen Arbeit, das ist die Ruhe vor dem Sturm. Eine der Tänzerinnen ist am Vortag auf eine Wespe getreten, die sich dafür postwendend gerächt hat. Jetzt ist der Fuss und das Bein der Tänzerin arg geschwollen. Ein groteskes Bild, die feingliedrige Balletteuse mit einem Klumpfuss, ihre Kunst kann sie für ein paar Tage vergessen. Krankheiten und die Angst vor Krankheiten begleiten Proben immer, nur an der Premiere haben sie absolut nichts zu suchen: Toi, Toi, Toi. Ein Tänzer hat anderes Pech gehabt, er trägt ein Halstuch, er hat sich erkältet, kann den Kopf fast nicht drehen. Frank, ganz mütterlich, gibt ihm einige Vitamin C Tabletten, später massiert er ihm ein wenig die Schultern. Daneben arbeitet Jutta Bertrams, die Choreographin, bereits mit drei Tänzerinnen, ändert Details und šbergänge. Probiert für sich selber erst eine Sequenz von Tanzschritten aus, beobachtet sich dabei intensiv selber, bevor sie die geänderte Figur ihren Schäfchen schnell vorzeigt. "Können wir?" Irgend jemand ist gerade noch draussen am Telephon, wie das eben immer ist, aber danach können wir tatsächlich.

Achtung, Regisseur Roger Pfändler, erklärt allen Beteiligten, dass die zwei Metallstangen am Hexenkessel in dieser Nummer jetzt erstmals auch wirklich mechanisch angehoben werden, wie Arme, die zuerst am Körper einer Holzpuppe herunterhängen und sich dann -gehoben von unsichtbaren Fäden oder wie hier von einem unsichtbaren Motor - wundersamerweise heben, bis sie in der Horizontalen zu stehen kommen. Das sind die Flügel des Zaubertopfs, später erst werden sie mit goldenem Stoff versehen, jetzt bringt jemand vorerst einmal einige bräunliche Klebestreifen an, damit die Tänzerinnen und Tänzer diese Stäbe auch sehen und sich nicht kurzerhand verletzen oder gar aufgespiesst werden, in ihrem Eifer, in der raschen Bewegung. Frank setzt sich in den Topf mit dem Rücken zum Publikum, er ist nicht zu sehen. Die Musik läuft: "Magic moments in a magic world". Vierzehn Darsteller legen los. Drei furchterregende Hexen. Hier wird mit Rollen gespielt, mit Geschlechterwechsel und fingierter Erotik. Eine glitzernde Scheinwelt eben. Das wirbelnde Ballett. Und plötzlich wird der Zaubertopf zum Publikum gedreht und France Delon springt heraus, entfesselt wie ein Wirbelwind. Sie singt das Lied live über das Mikrophon. Auch auf den zwei seitlichen Treppen mit je zwölf Stufen befinden sich Tänzerinnen und Tänzer in ekstatischer Bewegung. France setzt sich auf den gedrehten Zaubertopf frontal zum Publikum. Der hebt langsam ab, die Flügel (beziehungsweise die zwei Metallstangen) heben sich ebenfalls in die Höhe, wie geplant. Niemand verletzt sich daran. Das Lied ist zu Ende. Jetzt käme der Applaus. Jemand sagt ihn an: "Applaus."

Es gibt Detailkritik vom Regisseur und der Choreographin. Diskret ziehen sie ihre Schüler, ihre Kinder, zur Seite und erklären, was gut war, was weniger gut war. Leise und zurückhaltend, individuell, Künstler sind leicht verletzbare Pflänzchen. Insgesamt aber allgemeine Zufriedenheit. Die Nummer hat - wenige Tage vor der Premiere - schon ausserordentlich gut geklappt. Fast zu gut. Im Theater (und auch im Variété) gilt allgemein die Regel, je schlechter die Generalprobe war, umso besser wird die Premiere. Holz anfassen. France hat das ganze "Amerikakostüm", Stars and Stripes, bereits an, die nächste Nummer wird geprobt. Jutta Bertrams empfiehlt ihr, den gewaltigen Hut während einer raschen Drehung mit der Hand festzuhalten, damit er einerseits nicht zu Boden fällt, damit sich andererseits ein komischer Effekt einstellen kann. Es wirkt schon beim ersten Versuch auf der Probe ausgesprochen lustig. Auch die Stöckelschuhe in diesem Auftritt sind schwindelerregend hoch. Morgen arbeiten wir weiter, bereits sind wieder vier Stunden vorbei, die Zeit läuft aus, nur nicht schon jetzt nervös werden.

Zweite Annäherung: Frank sitzt am Boden und meditiert, entspannt sich zum Beginn dieser Probe. Nebenan steigen die zwei Kollegen ins Kuh-Kostüm. "Also, Frank, Du bekommst ein Ansteckmikrophon." Soviele Kleinigkeiten müssen organisiert und erledigt werden, sind enorm zeitraubend. Die meisten tragen heute schon Perücken, Kostüme und Originalschuhe. Nur das Make-Up fehlt jetzt noch, sonst ist alles schon wie an der Premiere. Eine Helvetia mit Riesenbrüsten, Thomas Kraus alias Tamara erregt Aufsehen. France Delon aus den schziger Jahren: Weisses Glitterkleid mit gigantisch auftoupierten Haaren: Sicher ein Meter hoch. Innen ist Styropor, die Haare sind aussen angeklebt, sieht aus wie eine englische Bärenfellmütze für Riesen, umwerfend. Die zierliche France, das Ding wackelt gewaltig, wenn sie sich zu schnell bewegt. "Ich hab die Befürchtung, dass das nicht hält." Immer wieder werden die Nummern geübt, bis sie sitzen. Dazwischen Kostümwechsel auf Kostümwechsel. Geht diese Verwandlung technisch und zeitlich überhaupt? "Frank, wie lange sprichst Du hier?" "Drei Minuten, es können aber auch vier werden." Oder auch acht, wenn France Delon in Fahrt gerät, ist sie nur schwer zu stoppen. Ihre šberleitungen übt sie nicht, sehr zum Ärger von Regisseur Roger Pfändler, der eben alles gerne einmal sehen und hören möchte vor dem ersten öffentlichen Auftritt, vor dieser Premiere, die wiedereinmal die wichtigste der Welt ist. France Delon erklärt demgegenüber kategorisch, sie brauche das Publikum. Ohne Publikum aus Fleisch und Blut könne sie nicht improvisieren, da falle ihr nichts ein. Da ist ein Kleinkrieg zwischen dem Regisseur und der Künstlerin im gang. Der Regisseur wird ihn verlieren. Erst an der Premiere, mit Publikum, gibt France Delon preis, was sie sich diesmal an Texten hat einfallen lassen, was ihr dannzumal gerade wieder Freches einfällt.

Im Finale hat France Delon nochmals zwei ganz schnelle Umzüge. Helfer stehen hinter der Bühne bereit, die ihr bei den rasenden Kostümwechseln behilflich sind, allein könnte sie es in der knapp bemessenen Zeit nie und nimmer schaffen. "Da, da, die Ärmel!" Die Zeit der Liebenswürdigkeiten ist vorbei. Wenig damenhaft erteilt France Delon (oder Frank Conrady?) kurze Befehle wie ein General. "Jochen, meine Haare." Eine Perücke fliegt weg, wird durch eine andere ersetzt. Das Gesicht von France Delon ist verkrampft, zum ersten Mal verkrampft. Sie steigt in einen überdimensionierten Lüster ein, ihr letztes Kostüm in dieser neuen Show. Ketten werden befestigt. "Schleife, Schleife!" Eine Batterie der Marke Hitachi, die rund zwei Kilos wiegt, ist unter dem Rock versteckt, wer hätte die da vermutet? "Batterie feststecken, feststecken!" Der Lüster leuchtet. Auftritt France Delon, jetzt lächelt sie wieder, ist wieder charmant und witzig. Das ist eben die Bühne, das andere war hinter der Bühne, im Off. Niemand hat es gesehen. Oder fast.

Dritte Annäherung: Es ist Sommer, heiss, die Premiere findet in einem Zelt statt, nur noch drei Tage bleiben. Heute kann die Truppe zum ersten Mal im Zelt arbeiten, unter Bedingungen, wie sie dann an der Premiere auch eins zu eins herrschen werden. Es geht drunter und drüber. Scheinwerfer stehen herum und warten darauf, montiert zu werden. Das Ton- und das Lichtpult sind besetzt. Noch herrscht ein Chaos, nichts scheint koordiniert zu sein, obwohl alle Techniker voll Power arbeiten, emsig. Zeit für die Künstler, um etwas zu essen, gierig machen sie sich über ihre Teller her. Doch Frank isst nichts, er isst nie vor der Vorstellung, damit France Delon nicht mit einem vollen Magen auf die Bühne kommt. Ein voller Bauch studiert nicht gern, das wussten schon die alten Lateiner. Er schiebt stattdessen zwei ansehnliche Schaumgummistücke in die Strumpfhose, seitlich, um den Hüften mehr Fülle zu geben, damit die Formen weiblicher werden. Diese schöne Frau ist keine hundertprozentige Frau, es scheint nur so. Alles Mache. Alles inszeniert. So also wird das Publikum an der Nase herumgeführt, reingelegt, und es gefällt ihm trotzdem sehr.

Das Make-Up ist aufwendig. Zuerst eine Nassrasur, denn France Delon hat natürlich keinen Damenbart. Uli nebenan erledigt das bei sich elektrisch, geräuschvoll. Die Brille verschwindet, stattdessen kommen die Linsen rein, die sind nicht koloriert: "Meine Augen sind so!" Blau, so blau. "Wie spät isses?" Ein Brief von einem Freund aus Thailand ist eingetroffen, jetzt keine Zeit, ihn zu lesen. Frank trägt ein Kopftuch, was ihn schon etwas weiblicher erscheinen lässt. Die Niveadose wird jetzt nicht gebraucht, erst später, beim Abschminken. Auf einer Papierrolle steht ein Spiegel mit rosa Plastikrahmen. Frank trägt eine Grundierung auf sein Gesicht auf, neutralisiert es, schaltet diesen alten Conrady aus. Beobachtet sich selber im Spiegel minutiös. Arbeitet hoch konzentriert. Dieser Stift für den Lidstrich geht nicht. Ein anderer funktioniert, oberhalb der Braue entsteht eine neu Braue, die es so nie gab. Trompe-l'oeil. Die Augenlider werden gelb grundiert, dann kommt ein dunkles rosa drüber. Der Lidstrich wird viel dicker. Die Augen werden schwarz umrandet. Ein kleiner Spiegel, der viel stärker vergrössert, wird eingesetzt, es geht schliesslich um Präzisionsarbeit, die nicht ins Auge gehen sollte. Wangenrouge mit einem dicken Pinsel aufgetragen. Diverse Grössen vorhanden. Dann die Wimpern ankleben. Dann die Wimpern neu schwärzen. Die Lippen werden knallrot und optisch vergrössert aufgemalt. Dann ins Kostüm, die Brüste aus Gummi sind schon eingebaut. "Könntest Du die Taille enger schnüren?"

"Haben wir überhaupt Seife?" Die braucht es um die knalligen Nägel später wieder zu entfernen, die jetzt mit Patex-Leim angeklebt werden. Frank drückt seine Finger mit den knallroten Nägeln von unten gegen den Schminktisch, bis der Leim trocken ist, bis die Dinger halten. Hoffentlich. Seine Hände zittern. Die Verwandlung ist ein Krampf. Das drahtlose Mikrophon kommt. Die Ohrklips werden montiert. "Sind die Klunker nicht zu klein?" Die Perücke wird mit "Taft" festgesprayt. Es stinkt penetrant nach Haarspray. Dann wird sie aufgesetzt. Ein letzter Blick in den Spiegel. Nichts vergessen. France Delon ist bereit für den Auftritt, der noch auf sich warten lässt. Die Zeit wird genützt, um - zusammen mit den Kollegen, die die Hexen darstellen - für eine Pressefotografin auf der Bühne zu posieren. Das sieht fabelhaft aus. Da hat sich eine begehrenswerte Frau in die "Adams Family" verirrt. Die Flügel am Zaubertopf sind jetzt voll montiert, golden. "Können wir?" "Können wir?" "Kommt, Kinder, macht endlich vorwärts!"

Wieder in der Garderobe, Frank trägt ein grünes Frottiertuch um den Kopf, frischt das Make-Up etwas auf. "Wer kriegt den Garderobenschlüssel, wir haben nur einen?" "Gib ihn mir, ich bin ja immer zuerst da." Typisch Frank. Am Klunker klebt Leukoplast. "Das sind dann acht Minuten für den Wechsel." Da hängt ein genauer Zeitplan an der Wand, an den müssen sich die Künstler und Techniker eisern halten. "Wenn ich draussen bin und die Wimpern abfallen, ist das natürlich nicht gut. Die Linke ist schon ab." Die nächste Perücke ist zu hoch, die kann man auf dem Schaummgummikopf gar nicht frisieren. "Was ist jetzt mit den Hüften? Ach, ich lass sie drin." Nächster Auftritt. Schlag auf Schlag.

Den abgefallenen Nagel wieder ankleben. Die Hüften jetzt doch rausnehmen, denn da ist beim nächsten Auftritt kein Kostüm drüber. "Das wäre jetzt zu dick." Irgendwo ist ein Haar auf die Lippe geraten, das muss weg. "Was hab ich denn jetzt für Ohrringe an?" Ein Spickzettel wird konsultiert. Die roten Stiefel bis über die Kniee ziehen, ein Stress. "Jetzt hab ich nen Krampf in der kleinen Zeh." Die gigantischen Stöckelabsätze sind aus Stahl, sie sind auf eine Stahlplatte in der Sohle montiert, sonst würde das nie halten. Eine Spezialfirma in München stellt solche Sachen her. "Machen wir es heute schon mit Konfetti und Seifenblasen?"

Vierte Annäherung: Alle Künstler sind gebeten worden, den Badge der Produktionsfirma zu tragen, damit nur herein kann, wer auch wirklich mitarbeitet, wirklich mit dazu gehört. Ausser Frank trägt diesen Badge fast niemand. Probe im Kostüm, ohne Maske. Zwei Stunden Verspätung auf den Probenplan. Das Zelt ist dunkel, offenbar ein Stromausfall. Gerade genug Strom vorhanden für die Tonspur, deshalb geht die Probe im Dunkeln weiter. Eine Ton- und Gesangsprobe zunächst, dann ein eher technischer Durchlauf. Die Ballettdamen tragen glitzernde schwarze Abendkleider, Highlife ist angesagt. Sie haben rote Leuchtstäbe bekommen, die da im Dunkeln leuchten. Letzte Nacht hat Frank sich eine Art Skript notiert, den Roten Faden entworfen, den er durch die Show laufen lassen will, der ihn durch die Show trägt. Hoffentlich. Er versucht, das Geschriebene in der Garderobe in seinen Kopf zu hämmern. Grossartige Kostüme insgesamt. Die Hexen mit ihren falschen Nasen umwerfend, tierisch. Vollkommen verändert. Erinnert irgendwie an "Cats". Ist "Cats" mit Travestie wesensverwandt? Statt Geschlechterwechsel, Wechsel von Mensch zu Tier, zu einem Symbol der Weiblichkeit. Grenzüberschreitung in beiden Fällen. Es geht los, keine Zeit lange darüber nachzugrübeln.

Erstmals sind jetzt die Variétékünstler mit dabei. "Terry Parade, wie spricht sich das aus? Ist er aus England?", France Delon muss das wissen, denn sie soll ihn ja beim Publikum einführen, seine aussergwöhnliche Ballnummer ansagen. "Ah, ein Franzose." Daraus fabriziert sie dann in der Show flugs ein Wortspiel. Sie sieht die Tricks der Variétékünstler jetzt - zwei Tage vor der Premiere - zum ersten Mal, immer noch im Dunkeln. Und dann kommt die Hiobsbotschaft: Das ist gar kein Stromausfall. Das Elektrizitätswerk hat zuviel Strom geliefert, die Hirne der Lichtsteuerungsmechanismen sind durchgebrannt. "Wunderbar, wunderbar, eine Pflaume ohne Haar.", singt France Delon, oder ist das jetzt der Frank Conrady? "das darf ich hier sicher nicht singen.", entschuldigt sich sie oder er kurz darauf im Selbstgespräch beim nicht vorhandenen Publikum. Bis um zwei Uhr früh arbeiten die Künstler weiter, und zwar im Dunkeln. Die Techniker bemühen sich fieberhaft darum, sämtliche Gehirne der Scheinwerfer auszuwechseln. So ein verdammter Mist.

Fünfte Annäherung: Es regnet in Strömen aufs Zelt, morgen abend ist Premiere. Das Licht funktioniert wieder, die Technik hat die ganze Nacht und den ganzen Morgen durchgearbeitet, sie sehen übermüdet aus. The show must go on. Anderthalb Jahre im voraus hat Frank Conrady den Vertrag für diese Show-Produktion unterschrieben. Und jetzt beginnt der erste Durchlauf, die Verspätung beträgt lediglich eine Stunde. Erstaunlich immer wieder, zu was für Leistungen Künstler und Techniker unter Premierendruck fähig sind. Wie aus dem Chaos eine einheitliche Leistung entsteht, wie sich das alles in kürzester Zeit harmonisch zusammenfügt und wirkt, wie aus einem Guss.

Erstmals wird Trockeneis eingesetzt, das für die Zuschauer den Rauch des Feuers bildet, das unter dem Hexenkessel brennt. Diverse Spezialeffekte kommen jetzt noch neu dazu. "Da muss der Verfolger rein.", weist Regisseur Roger Pfändler an. France Delon beginnt mit den šberleitungen, deutet an, wie ihr Roter Faden etwa sein wird. Doch dann verstummt sie abrupt, es geht bei ihr nicht ohne Publikum. Pfändler versteckt seinen Ärger kaum. Die Variétékünstler sind jetzt voll integriert. Seifenblasen und Konfetti funktionieren auch. Pause. Dann weiter: Neu ist jetzt auch "Dame Edna" mit dabei, ein kurze Parodie, das Kostüm ist eben erst fertig geworden. überzeugend. Nach der Kritik folgt ein zweiter, mehr technischer Durchlauf, wo das Timing nochmals getestet wird. Der Zaubertopf dreht sich nicht von selbst, deshalb springt France Delon mit ihrer roten Mähne raus und dreht ihn mit einer lässigen Handbewegung kurzerhand manuell um, überspielt diese kleine Panne, die sich jederzeit erneut ereignen könnte. Bis gegen 04.00 wird im Zelt gearbeitet. Morgen abend ist Premiere.

Sechste Annäherung: 15.00 Uhr, Generalprobe. Mit Kostümen und Perücken, aber ohne Maske. Das Beleuchtungs- und Tonpult sind jetzt weit nach hinten in den Zuschauerraum verbannt. Die Programmhefte sind auf den Stühlen verteilt worden, France Delon, "Die schönste Frau der Welt", ist zum Massenartikel geworden. Dann um 15.37 beginnt die Generalprobe. Technisch läuft alles mehr oder weniger glatt, aber es ist keine Feuer zu spüren, das Feuer von France Delon ist nicht da. Sie deutet ihre šberleitungen lediglich an, versucht ab und zu einen Scherz, aber sie ist mehrheitlich fad, wirkt fahrig, unkonzentriert. Regisseur Roger Pfändler kocht innerlich und äusserlich vor Wut, weil er immer noch findet, France Delon sollte jetzt endlich ihre Karten aufdecken, schon jetzt die Katze aus dem Sack lassen. Immerhin, ein alter Witz von France Delon, den sie schon einmal testet, kommt bei allen an: "Kommt mein Mann nach Hause und fragt mich, France, soll ich nun heute reiten gehn oder lieber Tennisspielen? Da hab ich ihm gesagt, geh Du nur reiten, Dein Pferd hat schon angerufen."

Siebte Annäherung: Es wird dunkel im Saal. Die Hexen übernehmen die Macht, die Show beginnt. Endlich. Alles läuft rund, der Hexenkessel dreht sich wie geplant, France Delon springt heraus und besingt die magischen Momente oder das Glück schlechthin. Das, was das Leben lebenswert macht. Leben ist Leiden, doch genau das sollen die Leute in der Show vergessen können. Gute Unterhaltung (so wie sie bei France Delon rüberkommt) verhilft dazu mit, die Alltagsprobleme, Beziehungsschwierigkeiten, ja den Tod zu vergessen, indem man darüber lacht. Ihre Witze, weniger ihre Blödeleien, kommen leicht daher, aber sie haben Tiefgang. Das wird mir nicht in der Premiere klar, erst viel später, sechs Monate später, an der Derniere der "Magic Moments Show", der allerletzten Vorstellung im Variété Polygon, das heute leider geschlossen ist. France Delon redet so schnell, dass der Zuschauer keine Zeit hat, nachzudenken über ihre einzelnen Gags, keine Zeit hat, ihre Witze zu analysieren. Diese Taktik hat Methode. Die Revolverschnauze zieht ihre Zuschauer in ihren Bann, unterhält sie, lässt sie nicht mehr von der Angel. Und France Delon gibt ihnen keine Möglichkeit, zu merken, wie raffiniert sie mit den schwierigsten Themen spielt, etwa mit der Endlichkeit der menschlichen Existenz. Mit dem Tod, ein Thema, das man in einer bunten Revue nicht so ohne weiteres erwarten würde. Mir ist das erst aufgegangen, nachdem ich diese eine Show sicher zwanzig Mal gesehen habe. "France, was machst Du, wenn Du tot bist?" "Erst sprech ich mal weiter."

Tod und Sexualität sind die gekonnt verpackten Hauptthemen von France Delons Witzen. Wer sich von dieser Eintänzerin packen lässt, zum Tanz animieren lässt, ist garantiert nicht tot, schlägt dem Tod ein Schnippchen, ist während der Show noch einmal davon gekommen. "Meine sehr verehrten Damen und Herren - und all die andern." Schwups, schon im ersten humorigen Halbsatz ist so viel plaziert: Die normalen, üblichen Geschlechterrollen und dann noch alle die anderen, eine ganze Armee von Tunten oder was auch immer steht plötzlich im Raum. Sie, in ihrer eigenen doppeldeutigen Travestie oder Verkleidung, redet hier bereits von Sexualitäten, von Rollen, von Spielen in so vielen möglichen Varianten. "Eine rauhe Stimme" spricht aus "diesem elfenhaften Körper". Ganz beiläufig, was ist denn schon dabei, ob jetzt Dame Kunz, Herr Hinz oder Schwester Penetranzia angesprochen sind, ihr, France Delon, der zweideutigen Gastgeberin, sind alle Menschen willkommen in der "kleinen Revue", diesem grossen Welttheater. Wir wollen lachen, solange es noch geht, das ist die Devise. Irgendwann wird uns das Lachen dann schon noch vergehen, das ist das einzig Gesicherte. "Selbstschussanlagen und Fangseile sind montiert, abhauen hat überhaupt keinen Zweck."

Tempo, Teufel. Die Zuschauer sollen dranbleiben, sich keine Sekunde abnabeln können. "Ich muss schnell sprechen, damit die Zähne oben bleiben.", so erklärt France Delon ihr Tempo, ihre Unrast. Die Witze müssen erst verstanden sein, bevor sie ihre befreiende Wirkung entfalten können, das ist die geistige Leistung der Zuschauer. "Das Textblatt enthält die Aufschlüssellungen.", lügt France Delon munter, "für Aargauer sind Zeichnungen mit dabei." Die Aargauer, das sind gewissermassen die Ostfriesen der Zürcher. "Man muss sich an mich gewöhnen, obwohl ich jetzt im Bumbsalter bin." Schön zweideutig. "Bumbs, kaum sitz ich, schon schlaf ich ein." Wem ist das noch nie passiert? Peinlicherweise. Vorboten des Todes, der Endlichkeit, des physischen Zerfalls? Bei France Delon lachen wir darüber, über die sexualisierte Verpackung, unseren Irrtum, wir lachen über uns selbst, über unsere eigene Hinfälligkeit. Wir zeigen Galgenhumor. "Eigentlich wollt ich mich ja kremieren lassen, aber das geht nicht. Ich sauf zuviel, da fliegt das Krematorium in die Luft." "Kürzlich ist eine Kollegin von mir gestorben, die war so was von geizig, die hat sich nur bis zum Bauchnabel eingraben lassen. Damit sie die Grabpflege noch selber machen kann."

"Michael Jackson und Lisa-Maria, sie kriegt ein Kind, schreibt die Presse. Doch das stimmt nicht, das Kind kriegt er, und der Vater ist Richard Geere." Ein facettenreicher Witz, der an der Premiere einschlägt, wie ein Blitz. "Ich bin auf Diät, ich ess nur Seafood. Esse alles, was ich seh." "Die Dünnen sind auch alle gestorben bis heute." France Delon versucht, die Leute miteinzubeziehen, fragt eine Frauengruppe, wo sie die Männer gelassen hat. Zu Hause, lautet die Antwort. "Ja, das glauben Sie. Die einzige Frau, die wirklich weiss, wo ihr Mann ist, ist eine Witwe." Immer wieder spricht sie (der verkleidete Mann) die Frauen direkt an, bittet um Frauensolidarität: "Wir Mädels müssen zusammenhalten." Und macht sich über den Geschlechtsakt und die Männer lustig: "In der heutigen Zeit, wo es Pipetten und Reagenzgläser gibt, da brauchen wir Frauen die Männer doch nicht mehr. Da können wir uns die Zwillinge doch gleich selber schütteln." Oder weiter im nie endenden Geschlechterkampf: "Sperren Sie einen Schweizer Mann mit einer nackten Frau und ner Eisenbahn in ein Zimmer, er spielt mit der Eisenbahn, ich schwör's Ihnen."

Die Schönheit, der schöne Schein, ein weiteres Leitmotiv in den Shows der France Delon, ist endlich. Die Schönheit vergeht. "Früher waren wir Blumenkinder, heute sind wir Trockensträusse. So ändern sich die Zeiten." Der endgültige Fall kommt bestimmt: "Ich hab gut reden, wenn ich mit meiner Gummibrust hinfalle, schlag ich vier mal rauf und runter bis ich wieder stehe. Aber stellen Sie sich vor, ich fall aufs Gesicht, muss bremsen, wie seh ich da aus? Wie viele andere. Möcht ich nicht." Einmal ist die Show zu Ende, einmal sind wir auch vorbei: "Mein Spiegel, der stellt sich blind. Wenn ich mal frag, Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land? Dann sagt der, geh mal zur Seite Alte, ich kann nichts sehen." Und im letzten Lied der Show, im Finale, singt France Delon ihre Botschaft nochmals, abschliessend: "Die Minuten, die Sekunden, sie kehren nie zurück zu dir." Der Schmerz über die Endlichkeit der eigenen Existenz, über die Limitiertheit des menschlichen Daseins, darüber lachen die Zuschauer der Shows. Sie gewinnen für kurze Zeit Distanz und erhalten eine vergnügliche Verschnaufpause im Jammertal. Das ist die Quintessenz von France Delons Unterhaltung. Das ist ihre Kunst. So trauert sie im vollen Scheinwerferlicht um ihren toten Freund. Und niemand bemerkt es im grossen Gelächter......
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