Frage: Wie wichtig sind die Kritiken für dich?
Kritik, das ist immer eine einzelne Person. Kritiken, ich lese sie, über einige
ärgere ich mich, weil, ich sag einfach, das ist blöde, das ist total daneben. Ich seh
selber ungefähr, wo Fehlerquellen sind bei mir, wenn es nicht funktioniert. Jeder sieht
das mit seinen eigenen Augen und bei einigen Kritiken, da sage ich, das ist total
bescheuert. Aber wenn eine Kritik gerechtfertigt ist, dann ist das in Ordnung. Dann hat
der Kritiker eben auch nur seinen Job gemacht.
Frage: Kritik kann dir ziemlich schaden?
Das ist halt so. Das war immer so, und das wird immer so sein. Aber hinter jeder Kritik
sitz auch immer nur ein Mensch, der genauso fehlbar ist wie jeder andere auch. Ich hab mal
ne Kritik gehabt, "Frank Conrady übt sich in exhibitionistischem, albernem
Ausdruckstanz", ja, da kann ich auch mit leben. Wahrscheinlich hätt er selber ganz
gern da halbnackt getanzt. Ich hab diese Kritik aufgehoben, weil ich sie sehr lustig fand.
Die hat mich bis heute immer begleitet, ich hab mich darüber kaputt gelacht.
Frage: Wieviele Gags oder Witze hast du in deinem Fundus?
Also es ist so, ein grosses Potential an Gags ist gespeichert im Kopf, die ich abrufen
kann, solange es klappt, solange das Gehirn mitmacht, in den Sekunden, wo ich sie brauche.
Und dann ist das Wichtigste am Abend überhaupt das, was du kreierst aus der Situation
heraus, was eben nicht gespeichert ist, was kommt. Das macht das Talent aus, wenn du aus
Situationen neue Gags oder neue Situationen hervorbringen kannst, die so lustig sind, dass
alle darüber lachen können.
Frage: Wieviele Prozente sind das?
Ich würde sagen sechzig Prozent ist gespeichert, und den Rest kreiere ich einfach.
Oder ich erarbeite ihn aus der Situation heraus. Das ist leichter in einem intimeren
Theater, wo keine störenden Nebengeräusche vorhanden sind.
Frage: Kannst du in einer Show funktionieren, wo alles von vornherein festgelegt worden
ist?
Für mich ist sehr wichtig, dass ich ich-selbst bleiben kann. Und wenn das nicht der
Fall ist, funktioniert es nicht. Und die Leute, die mich bis dato so kennen, die wollen
genau das. Und auch diese kleinen Frechheiten und den kleinen Fehlern, mit den Pannen, die
passieren. Nur dann bin ich gut. Ich hab nichts gegen gute Arbeit, aber Perfektion macht
die Seele und den Menschen kaputt. Die Leute streben immer nach Perfektion und merken gar
nicht, dass sie sich damit selber töten.
Frage: Haben die Produzenten dafür nicht einfach zu viel Angst? Eine Showproduktion
ist aufwendig, teuer. Da geht es auch um eine Stange Geld.
Das ist das Problem, sie haben alle ein bisschen zu viel Angst, und die hab ich nicht,
es hängt einfach ne Menge dran, und damit können sie nicht umgehen. Ich mach das nicht
bloss, um hier Geld zu verdienen, ich habe nie soviel Geld gehabt, dass ich Angst haben
musste, dass ich was verliere. Ich brauch immer soviel, dass ich in Ruhe leben kann. Ich
bin knallhart gegen mich selbst, Brot zum Essen hab ich immer.
Frage: Es steht für die andern aber doch sehr viel Geld auf dem Spiel. Interessiert
dich das denn gar nicht?
Das Problem an der Geschichte ist, mir hat Geld nie was bedeutet. Das Wichtigste für
die letzten Jahre, was ich auch lernen musste, war, Nein zu sagen. Ich lasse mich kaufen
für die Arbeit, die ich leiste. Aber ich lasse mich nicht kaufen für etwas, wo ich sage,
ich hab viel Geld, aber ich bin nicht mehr ich. Ich muss gar nichts, ich hab kein Haus,
muss keines haben, ich hab kein Boot im Hintergrund oder irgendwas, was ich brauche, um
glücklich zu leben. Seit sechs Jahren, seit dem Tod von Poul, interessieren mich
derartige Sachen überhaupt nicht mehr. Ich kann auch nicht mehr als essen und trinken und
glücklich sein, und glücklich sein kann ich auch in einer ganz kleinen Wohnung. Das ist
meine Lebensphilosophie, die ich nicht mehr gross ändere.
Frage: Gibt es eine Biographie von France Delon, wie alt ist sie? Junfrau? Verheiratet?
Hure? Oder ist sie Tagesform?
Sie ist das, was ich immer sein wollte. Ich wollte immer jeden Tag neu sein und anders.
Und das, was die Leute von mir erwartet haben, ich hab das immer wieder zerstört, fast
schon in Sekunden. Ich hab was aufgebaut und das schon wieder gekippt in der nächsten
Minute. So bleibst du immer frisch und kannst dich auch mit den jüngeren Generationen
arrangieren. Was, die ist schon so alt und kommt bei jüngeren Leuten so an. Man muss sich
auf das Neue einstellen und einstellen können. Ich liebe das Alte, ich liebe die
Vergangenheit, aber nicht dran hängen bleiben.
Frage: Also kannst du dir nicht vorstellen, dass du die Figur klarer definierst?
Nee, nee. Weil ich bin auf der Bühne manchmal 80, so kommt es mir jedenfalls vor. Und
dann bin ich wieder wie ein 15jähriges junges Meitli (Mädchen). Da ist so eine Spanne
dazwischen. Ich kreiere da in dem Augenblick eine Kunstfigur, die von innen heraus
entstanden ist. Die ist in jeder Sekunde etwas anderes, etwas neues.
Frage: Bist du ein Chamäleon?
Ja, ja. Das war immer schon meine Devise, nie gleich bleiben. Ich wollte nie in eine
Schublade gesteckt werden. Das ist die und die Schublade, und da gehört France Delon
hinein. Das geht nicht, weil die frisst sich durch den Boden und ist schon in der
nächsten Schublade.
Frage: Also kein Chamäleon, vielleicht ein Kristall?
Ja, mit vielen Facetten, vielfältig. Ich rede ja viel, aber wenn ich etwas nicht
preisgeben will, kommt es nicht raus. Wenn die was wissen wollen, das erfahren die nie von
mir. Ich antworte zwar, aber auf eine Sache, die gar nichts damit zu tun hat.
Travestie: Die grosse Kleinkunst der France Delon
France Delon ist nicht die "Schönste Frau der Welt", wie es grossmäulig in
der Werbung für die Zürcher Show "Magic America" hiess. Aber France Delon ist
zweifellos eine schöne Frau. Auch Frank Conrady ist nicht gerade ein hässliches Entlein,
aber die Verwandlung zum formvollendeten Schwan vollzieht sich erst, wenn er in die Maske
von France Delon hineinschlüpft. Oder wollen wir, um im Tierreich zu bleiben, das Bild
einer Raupe bemühen, die sich in einen bunten Nachtfalter verwandelt?
Und diese schöne Frau auf der Bühne wirkt doppelbödig, nicht ganz echt, irritierend.
Es gibt auch wirkliche Frauen, die eine derartige Wirkung entfalten. Ich denke etwa an
Zarah Leander, von Rosa von Praunheim in seinem Nachruf im "Spiegel" damals als
"Bassamsel" angesprochen. "Die Bassamsel singt nicht mehr", so war der
ganze Titel. Mit ihrem riesigen Décolltéé ihren riesigen Brüsten, war das zweifellos
ein Frau, eine Mutter, eine Urmutter. Aber die rauhe, tiefe Stimme gab ihr etwas eindeutig
Zweideutiges.
Kein Wunder war (und ist) sie bei den Schwulen so beliebt, die oft ein feines Sensorium
für solche Zwischentöne der Natur haben. Ähnliche Zweideutigkeit verbreiten etwa Margot
Werner, die auf mich immer wie ein verkleideter Kerl gewirkt hat, Hildegard Knef, Milva
oder auch Mae West. Und (vielleicht) weniger stark: Marlene Dietrich. Unter ihrer
"Maske" könnte sich etwa ein feingliedriger, blonder Matrose verbergen, so
scheint mir. Allesamt sind sie sogenannte Schwulen-Mütter, Frauen, die bei Homosexuellen
äusserst beliebt sind, ja von Homosexuellen geradezu verehrt werden.
Schöne Frauen aus der Welt des schönen Scheins, nah, und unendlich fern zugleich.
Unerreichbar und somit auch für niemanden wirklich gefährlich. Aber diese Objekte der
Verehrung lassen Gefühle zu, auch Sentimentalitäten und nicht zuletzt Spass, Vergnügen,
Lust, genau wie Frank Conrady in seiner Verkleidung als France Delon. Da kommt mir jener
Berner in den Sinn, der France noch nie live gesehen hatte, sie nur von Bildern kannte und
ihr darauf einen seitenlangen, handgeschriebenen Liebesbrief mit Heiratsantrag schickte.
In diesem Fall ist der Zweck der bung, das raffinierte Spiel mit der Täuschung,
fast vollkommen gelungen.
France Delon bietet dem Auge etwas. Das ist ein Aspekt ihrer Wirkung, ihres Erfolgs.
Schönheit, eingepackt in überraschende Kostüme, die eindeutig ihren Preis haben, die
eigens für sie gestaltet und ausgeführt wurden. Das ist keine billige Konfektionsware,
die irgendein Lulatsch zufällig übergezogen hat. Dasselbe gilt für die Perücken. Für
das Make-Up. Für die Lieder. Für die Choreographie. Für das Licht. Für die
Spezialeffekte. France Delon ist sichtlich um formale Perfektion bemüht, alles ist
assortiert, es soll zusammen passen. Nichts an diesem Rahmen darf zufällig oder
zusammengewürfelt wirken. France arbeitet, mit einem Wort, professionell.
Und dann kommt aus dieser gestylten, schönen Kunstfigur eine Stimme heraus, die
äusserst spontan, rotzfrech, aber nie beleidigend ist. Eine Stimme, die keine Tabus
kennt. Die alles kritisiert, indem sie die Dinge so darstellt, dass sich beim Zuschauer
das notwendige Gelächter einstellt. France improvisiert laufend, was wenig andere
Travestie-Künstler überhaupt können. Dadurch hebt sie sich ab. Wenn es im Publikum
Reaktionen gibt, geht sie darauf ein, nimmt den achtlos hingeworfenen Faden wie beiläufig
auf, und spinnt ihn weiter. Oder sie ist tagesaktuell, fabriziert Witze, die zu
Ereignissen passen, die am Tag der Vorstellung in der Zeitung oder am Fernsehn waren.
Dinge, über die wir gemeinhin reden. France Delon ist eine verbale Eintänzerin.
Als Eintänzer hat Frank Conrady in der Disco angefangen. Als Animator, der seinen
Körper, seine Beweglichkeit benützt, um andere mitzureissen. Nichts anderes macht France
Delon in ihren Shows, doch sie benützt nicht nur ihren Körper, sie braucht neben Tanz
und Gesang auch die gesprochene Sprache. Sie packt ihr Publikum, bringt es in Bewegung,
indem sie selber in geistiger Bewegung ist. Sie rotiert geistig um ihre eigen Achse und
veranstaltet dabei ein sprachliches Feuerwerk (oder Schnellfeuer) aus berleitungen,
die bei anderen banale Ansagen von Variéténummern wären.
Der Pausenclown führt live vor, dass er durchaus das Zeug zum Hofnarren hat, dem auch
gekrönte Häupter besser zuhören sollten. Das Nummerngirl aus dem Zirkus hat sich
emanzipiert und wird zur Hauptfigur. Und die inhaltliche Verpackung des Ganzen ist eine
Folge von Witzen. Anzügliche Witze, durchaus, aber keine billigen Witze, die auf Kosten
von jemand anderem geht. Wir lachen bei France Delon über uns selber. ber unsere
Ängste, Nöte und unsere Alltagsprobleme. Das ist nicht nur unterhaltsam, es ist geradezu
befreiend.
Wenn France Delon betont, dass ihr Gesang nicht perfekt sei, so ist das ein Ausdruck
ihrer Bescheidenheit, die bekanntlich wahre Grösse ausmacht. Die meisten
Travestie-Künstler können überhaupt nicht live singen, sie singen play-back, borgen
sich eine beliebige Stimme - oftmals auch eine Maske - und bewegen dazu die Lippen, sind
grelle Karikaturen. Wenn man ihnen den Strom abdreht, wirken sie wie Fische, die es
unglücklicherweise aufs Land gespühlt hat.
France Delon ist in der Travestie-Szene eine Ausnahmeerscheinung. In ihrer Welt des
schönen Scheins ist eines sicher echt, das ist ihr Gesang. Zusammen mit ihrer
unglaublichen Improvisationsgabe ist das vielleicht das abschliessende Geheimnis ihrer
grossen Kleinkunst, ihrer einmaligen Bühnenwirkung.